Dem Hochwasser ist weit mehr als finanzielle Sorge und Not gefolgt. Die Wassermassen haben an der Tippelstraße 4 weit mehr an die Oberfläche gespült.

In einigen Häusern und Wohnwagen auf dem Platz an der Tippelstraße 4 brennen schon die Teelichter, Kerzen und Lichterketten für den nahenden Advent. In anderen hoffen die Bewohner und Bewohnerinnen weiterhin darauf, irgendwann wieder zu ihrem früheren Leben auf dem Campingplatz des „Freizeitdomizils Ruhrtal“ zurückkehren zu können. Der Platz ist ihr Zuhause, ein anderes haben sie nicht. Das Hochwasser im Juli 2021 hatte einen Großteil der Wohnhäuser massiv beschädigt. Noch heute sind die Folgen deutlich spür- und sichtbar.

Ein Caritas-Team steht den Menschen seit mehr als einem Jahr dort bei der Lösung zahlreicher Probleme zur Seite, unter anderem unterstützen die Team-Mitglieder im Projekt „Ruhrtal Nachbarn“ bei Anträgen für das Wiederaufbau-Programm des Landes. Trotzdem sind Spendengelder enorm wichtig. Warum, das erklärt Petra Backhoff vom Caritas-Team im Interview.

Das Hochwasser im Ruhrtal wird im Advent anderthalb Jahre her sein. Wie ist der aktuelle Stand, wie sind die Lebensbedingungen auf dem Gelände an der Tippelstraße heute? Wie geht es den Menschen?

Das ist individuell sehr unterschiedlich. Diejenigen, die versichert waren, sind sicherlich am besten dran. Ein Großteil der von uns betreuten Menschen hat mittlerweile Gelder aus dem Wiederaufbau-Fonds des Landes NRW erhalten, jedoch lediglich als „Haushaltspauschale“. Das ist deutlich weniger, als Menschen erhalten, die nicht auf einem Campingplatz ein Haus haben. Das Land begründet dies damit, dass ein dauerhaftes Leben in Deutschland auf einem Campingplatz nicht gestattet sei. Unabhängig davon, ob es die Lebensrealität der Menschen trifft oder nicht.
Andere haben bisher – zumindest von Landesseite – gar keine Unterstützung bekommen und werden voraussichtlich auch keine Gelder erhalten. Das sind diejenigen, die auf dem Campingplatz leben, aber nicht mit erstem Wohnsitz gemeldet sind. Nicht gemeldet, weil man ihnen die Meldung von Seiten der Kommune nicht ermöglicht hat.

Für uns heißt das, diese Menschen sind klar benachteiligt und werden ausgegrenzt. Wer über Finanzen verfügt, der hat jedoch noch lange kein bezahlbares Baumaterial oder qualifizierte Handwerker. Es ist ein Dilemma. Außer den großen finanziellen Problemen gibt es noch zahlreiche andere Sorgen, die zum Teil erst durch das Hochwasser sozusagen an die Oberfläche getreten sind. Dazu gehören: Einsamkeit, Armut, psychische Erkrankungen, Suchterkrankungen wie auch altersbedingte Einschränkungen. In Summe muss man sagen, dass die meisten Bewohner und Bewohnerinnen mit irgendeiner Form von Einschränkung beziehungsweise besonderer Herausforderung zu kämpfen haben.

Warum benötigt die Caritas Ruhr-Mitte für die Arbeit am Standort „Ruhrtal Nachbarn“ überhaupt Spendengelder, wenn es doch ein Wiederaufbau-Programm des Landes NRW gibt?

Aufgrund einer strukturellen Benachteiligung bekommen Menschen, die beispielsweise in einem Blockhaus auf einem Campingplatz leben, für dieses Zuhause keine Wiederaufbauhilfen des Landes – völlig unabhängig von der Tatsache, dass dies ihr einziges Zuhause ist. Da diese Leute jedoch zum Großteil nicht über nennenswerte Rücklagen verfügen, bleibt nicht viel Handlungsspielraum. Entweder sie bleiben in der nahezu nicht mehr als Wohnraum geeigneten Umgebung, sie verschulden sich oder sie erhalten Spendengelder. Ohne die Mittel der Brost-Stiftung, die wir an diese benachteiligten Menschen haben ausgeben können, wäre die Not auf dem Platz wesentlich gravierender. Menschen, die bereits vor einer Katastrophe in prekären Lebensumständen waren, brauchen in solchen außergewöhnlichen Zeiten auch außergewöhnliche Hilfestellungen. Wir sind der Stiftung sehr dankbar, dass wir diese Hilfe in vielen Fällen leisten konnten. Hinzu kommen weitere Hilfestellungen unsererseits wie Sozialberatung und Angebote zur Schaffung eines lebenswerten Wohnquartiers an der Ruhr.

Was sollte aus Sicht der Fachkräfte des Caritasverbandes am Standort „Ruhrtal Nachbarn“ nun geschehen, um die Lebensqualität der Bewohner und Bewohnerinnen langfristig und nachhaltig zu verbessern?

Wir müssen versuchen, Strukturen zu schaffen beziehungsweise zu stärken, die den Menschen bei der Alltagsbewältigung dienen. Nehmen wir zum Beispiel eine 82-jährige Dame, die dort seit fast 30 Jahren lebt. Sie braucht altersbedingte Hilfestellungen beim Einkaufen, bei Erledigungen und zudem Angebote der Tagesgestaltung. Die Vernetzung der Bewohner und Bewohnerinnen ist deshalb ein großes Ziel. Viele Menschen sind – trotz der räumlichen Enge – einsam und alleine. Gerade in den Wintermonaten konnten wir dieses Phänomen deutlich beobachten.

Da die Situation für viele Menschen dort sehr ähnlich ist, liegt für uns die Vernetzung nahe. Ein Nachbarschaftsverein startet und will „Hilfe zur Selbsthilfe“ möglich machen. Angebote wie Spielenachmittage, warmer Mittagstisch, Plauderrunden und gemeinsames Kaffeetrinken stehen auf der Wunschliste der Bewohner und Bewohnerinnen. Wir als Caritasverband möchten dieses Engagement unterstützen und bei der Verwirklichung des Vorhabens zur Seite stehen. Ein Quartier dieser Größenordnung kann für die Menschen auch ein besonderer Ort der Gemeinschaft und des Miteinanders werden und somit viel Lebensqualität bereitstellen. Dazu möchten wir als Caritas beitragen.

Zahlen:

  • Rund 100 Menschen im Alter zwischen sechs und 86 Jahren nahm die großflächig über die Ufer tretende Ruhr ihr Zuhause. Auch wenn es sich bei dem Gelände offiziell um ein Wochenend- und Urlaubsdomizil handelt, sind in den 160 Holz- beziehungsweise Blockhäusern rund 200 Menschen mit Erstwohnsitz angemeldet.
  • 5,50 Meter lang, 2,20 Meter tief, 3 Meter hoch ist das Tiny-House, ein Ein-Raum-Gebäude auf Rädern, in dem die Caritas unter dem Namen „Caritas Ruhrtal Nachbarn“ ein festes Sozialberatungsangebot mit Blick auf die Bedürfnisse, Sorgen und Nöte der Menschen vor Ort bietet. Seit dem Hochwasser ist die Caritas mit einem Team vor Ort im Einsatz.
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